.
                       C h r i s t o p h   K a m m e r t ö n s    Henri Herz                                               



Herz, Henri [Heinrich]  * 2. Jan. 1806 Wien (nach der Heiratsurkunde von 1865, die gleichwohl die Nichtverfügbarkeit* der Geburtsurkunde vermerkt; anderslautende Geburtsdaten, etwa 6. Jan. 1803 bzw. 1806 stützen sich auf weitere, widersprüchliche Quellen**), † 5. Jan. 1888 Paris; Pianist, Komponist, Klavierpädagoge und Klavierbauer.
   Henri Herz studierte ab 1816 Klavier bei Louis Pradher sowie die theoretischen Fächer bei Victor Dourlen und Antonín Reicha am Pariser Conservatoire. Ruhm erwarb sich Herz zunächst als komponierender Virtuose, dessen stupende Fähigkeiten bereits anlässlich des von ihm errungenen ›1er Prix‹ im ›Cours dÉtudes‹ von 1818 bis nach Deutschland ausstrahlten: »[…] er ist ohnstreitig unter allen frühreifen musikalischen Genies […] derjenige junge Musiker, der neben einem bewundernswürdigen Mechanismus, in seinem Vortrage den reinsten Geschmack, den scharfsinnigsten Geist und das tiefste Gemüth verräth. Sein Spiel scheint überhaupt auf einem andern Grund und Boden gebaut zu seyn, als das aller übrigen hiesigen [= Pariser] musikalischen jungen Leute« (AmZ, 1819, S.144***). Wurde die Qualität seiner Kompositionen (op. 1–215 und zahlreiche Werke ohne Opuszahl, ausschließlich für Klavier) – insbesondere jene seiner Variationen, Fantasien etc. über fremde Themen – äußerst kontrovers diskutiert, so erfreute sich der ausübende Pianist unterschiedslos höchster Wertschätzung; dies auch international: ausgedehnte Konzertreisen führten ihn in den 1830er und 1840er Jahren durch Europa und Russland sowie zusammenhängend 1845 bis 1851 durch Nord- und Südamerika.
   Herz
herausgehobene Stellung in der öffentlichen Aufmerksamkeit wurde 1834 durch den an seiner Person ausgetragenen Streit zwischen Maurice Schlesingers Gazette Musicale und François-Joseph Fétis Revue Musicale begründet (vergl. Chr. Kammertöns, 2000, S. 87ff.). Schlesinger bekämpfte nicht nur erfolgreich die Konkurrenz, sondern verstand sich publizistisch auch als Anwalt eines hoffmannesk-romantischen Künstlertums (vergl. Kath. Ellis, Music Criticism in Nineteenth-Century France. La Revue et Gazette musicale de Paris 1834–1880, New York 1995, S. 50), das Modekomponisten, insbesondere Herz in Verkörperung dieses Berufsstands, unter den Generalverdacht der Anbiederung an den Geschmack der Masse und der Korrumpierung der Kunst im Interesse des ökonomischen Profits stellte. Gerichtsverfahren und ein Duell taten ein übriges, um Herz als schillernde Skandalfigur zu beispiellosem, wenn auch zweischneidigem Ruhm zu tragen.
   Nüchtern betrachtet war der vielfältig engagierte Unternehmer auch als Komponist Geschäftsmann, der auf hohem handwerklichen Niveau verfertigte, was der Publikumsgeschmack wünschte. In seiner klavierpädagogischen Literatur verstand er es, moderate Anforderungen mit der Aura der Vermittlung perfekter Virtuosität zu verknüpfen. Dessen ungeachtet sind seine Werke gelegentlich auch von an Chopin anknüpfender Delikatesse und experimenteller Individualität geprägt; so offenbart seine Grande Sonate di Bravura Es-Dur op. 200 eine Schubert verpflichtete harmonische Weitschweifigkeit von stellenweise eigenwilligem Gepräge. Acht Klavierkonzerte (A, C, d, E, f, A, h, As – op. 34, 74, 87, 131, 180, 192, 207, 218) wie auch die Sonate zeugen zudem von der Beherrschung der großen Form, wenngleich auch hier die gelegentlich unmotivierte Applikation traditioneller Versatzstücke – etwa einer angedeuteten, jäh abbrechenden Fuge im Finale der Sonate – ernüchtert.
   Am schätzenswertesten präsentiert sich Herz, wo er sein quasi angestammtes Genre der Variation auf der Höhe inspirierter Könnerschaft erfüllt: Le Chant du Pèlerin, Elégie  Des-Dur  op. 187  (spätestens 1856, > anhören [run-through: CK]) überz
eugt mit einem schwärmerischen, weit ausgreifenden Thema, das die dramatisierende Indienstnahme von Fiorituren einem profunden Verständnis der Melodieanlage eines Frédéric Chopin verdankt. Eingeleitet wird es durch acht Takte von auf- und abfahrenden Skalen, die sich – jeweils unvermittelt in spannungsreichen Akkorden gestockt – mit erneutem Auftreten noch höher aufschwingen und so den Eintritt des Themas dramaturgisch wirksam vorbereiten. Die folgende Verarbeitung des ›Gesangs‹ nutzt wirkungsvoll technische Problematisierungen bis hin zum ›Mandolineneffekt‹ von durch die Herz-Erardsche doppelte Auslösung erst ermöglichten schnellen Tonrepetitionen. Donnernde Oktavgänge, wuchtig arpeggierte Akkorde und eine pfeilschnelle Des-Dur-Kaskade beschließen diesen unter Einbezug des Sonatenhauptsatzes formal geschlossenen und pianistisch überaus dankbaren Variationszyklus.
   Als Kuriosum besticht das Grand Duo du Couronnement B-Dur [Fantaisie du Couronnement] op. 104 (1839), das gleichwertig in der Fassung für Klavier und Harfe (in Kollaboration mit Théodore-François-Joseph Labarre [* 24.3.1805 Paris, † 9.3.1870 Paris]) wie auch in jener für zwei Klaviere existiert. (Die ebenfalls veröffentlichte Zusammendrängung der Parts für Klavier solo geht des kommunikativen Reizes sowie eines bedeutenden Teils des komplexen Satzes verlustig.) Mit sicherem Gespür für musikalische Dramaturgie entwickelt Herz – umrahmt von einem einleitenden Lento maestoso mit anschließendem »God save the Queen« und einem beschließenden Marsch – in drei Variationen einen denkbar weiten Kosmos musikalischer Facetten der englischen Hymne. Unter Einbezug professioneller klaviertechnischer Schwierigkeiten, die hier einmal ganz im Dienst musikalischer Substanz stehen, changiert das Werk zwischen donnernder Pracht aufgefüllter geschwinder Oktavgänge, Fiorituren von Notturnocharakter, rasenden dramatisierenden Passagen, die dennoch die Gestalt der Hymne nicht verdecken, melancholisch spekulativ-einhaltender Frage und souverän beschließender Antwort in Form eines brillant verarbeiteten »Rule Britannia«-Statements. Die Textur beider Parts reflektiert auch in der Fassung für zwei Klaviere sehr gelungen die unterschiedlichen Bedingungen von Harfe und Klavier mit einem quasi weiblicheren und einem männlicheren Part.
   Der Wahlpariser übernahm 1842 als Klavierprofessor die Betreuung einer Frauenklasse am Conservatoire, ein Amt, das er ab 1874 als Honorarprofessor fortsetzte. Darüber hinaus erteilte er gemeinsam mit seinem Bruder Jacques-Simon [Jacob-Simon] (* 31.12.1794 Frankfurt/M., † 27.1.1880 Nizza) Privatunterricht. Seine pädagogischen Erfolge und der instruktive Charakter seiner Kompositionen wurden auch von denen nicht geleugnet, die Herz als Künstler bedeutungslos fanden. So schätzte Friedrich Wieck an Herz
»rein claviermäßigen Stücken« (T. Mäkelä u. Chr. Kammertöns, Hrsg., Fr. Wiecks Clavier und Gesang und andere musikpädagogische Schriften, Hamburg 1998, S. 60), dass »sie keinen weiteren musikalischen Werth beanspruchen und daher die Darstellung, die Ausführung das Hauptsächlichste dabei thun muß« (ebd. S. 162); und Chopin lobte u.a. Herz Schüler als »virtuoses accomplis« (Fr. Chopin,Correspondance, Br. E. Sydow, Hrsg., Bd. 2, Paris 1981, S. 84).
   Die pädagogisch motivierten Werke verfolgen gezielt die Problematisierung technischer Details und lassen niemals ein auch für den Amateur erreichbares Erfolgserlebnis außer acht. So zeigt auch die Grande Etude artistique résument les difficultés du piano, a-Moll/C-Dur op. 222 den Komponisten von der Seite des versierten Pädagogen, der – solide aber etwas bemüht – technische Probleme ›abarbeitet‹. Dem verkündeten Anspruch, die Schwierigkeiten des Klavierspiels zusammenzufassen, wird er zweifellos wissend und absichtlich in keiner Weise gerecht. Exemplarisch mag hier für Herz
Schaffen zu ersehen sein, wie der Komponist quasi unterhalb des persönlichen und generell unterhalb des professionellen Standards der Zeit die wohlverstandenen Interessen der präzise eingeschätzten potentiellen Interessenten optimal bedient: Der geübte und versierte musikalische Dilettant erhält ein Werk, das für ihn zu bewältigen ist, und er darf sich gleichzeitig schmeicheln, im Olymp der Pianistik angelangt zu sein. Bekannt wurde der Pädagoge auch durch seinen 1836 patentierten Fingertrainer »Dactylion«.
   Als Klavierbauer (ab 1825 zunächst als Teilhaber, von 1839 an mit eigenem Betrieb) erwarb Herz sich bleibenden Ruhm durch die bis heute letzte substantielle Verbesserung der Klaviermechanik: Mitte des Jahrhunderts modifizierte er das Erardsche doppelte Auslösen (›double-échappement‹) durch eine nach ihm benannte Repetierfeder. Wurden seine Instrumente anfänglich als wenig klangschön und als unausgeglichen kritisiert, so schloß die Reputation seiner zur Jahrhundertmitte auf 13 Modelle angewachsenen Produktion bei der Pariser Weltausstellung von 1855 zu den großen der Branche, Erard und Pleyel, auf – freilich ohne jemals deren wirtschaftliche Bedeutung zu erlangen. Alle drei wurden mit der »Médaille dhonneur« für »Pianos dune sonorité très-remarquable« (RGM, 1855, S. 359) geehrt; weitere Ausstellungen bestätigten den Erfolg der Firma. Herz Pariser Klavierwerkstätten in der Rue de la Victoire war die Salle Herz angeschlossen, ein gut ausgelasteter, von den Journalen als überaus geschmackvoll gestaltet gerühmter Konzertsaal mit 668 Sitzplätzen, über den noch 1874 zu lesen war, er sei »encore la plus jolie et la plus recherchée par les artistes« (F.-J. Fétis, Biographie universelle des Musiciens, Bd. 4, Paris (2)1874, S. 317).
   In Deutschland ist Herz
Bild bis auf den heutigen Tag entscheidend durch Robert Schumann geprägt, der den Kollegen wohl einerseits aus Überzeugung als unkünstlerischen Vielschreiber ablehnte, andererseits seine spöttische Verachtung wohl auch instrumentalisierte, um seinem Schwiegervater, Friedrich Wieck, und vor allem dem dezidiert moderat gegen Herz orientierten Redakteur der AmZ, Gottfried Wilhelm Fink, polemisch entgegenzutreten.

Werke: Auswahl-Werkverzeichnis in: Fr. Pazdirek (Hrsg.), Universal-Handbuch der Musikliteratur aller Zeiten und Völker, Bd. 5, Wien 1904–1910 • R. Sietz, Art. Herz, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), hrsg. von Fr. Blume, Bd. 6, Kassel u. Basel 1957, Sp. 294 • Chr. Kammertöns, Art. Herz, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), hrsg. von L. Finscher, Personenteil Bd. 8, Kassel etc. 2002, Sp. 1448 (+ Hinweis auf neuere Ausg., Sp. 1449) / Größtmögliche Vollständigkeit gewährt nur der Katalog der Bibliothèque nationale Paris (Abt. Musique, Zettelkatalog oder Microfiche, die z.B. i. d. Bibliothek der Folkwang-Hochschule Essen einsehbar), gefolgt von den Katalogen der Preußischen Staatsbibliothek Berlin (Zettelkatalog, verzeichneter Bestand zum Teil auch dann Kriegsschaden wenn nicht so vermerkt), British Library und der Bayerischen Staatsbibliothek (beide in gedruckter Form allgemein zugänglich), für Auswahl s. zudem: imslp
Schrift
: Mes voyages en Amérique, Paris 1866 (Erstdr. im Moniteur universel)
Literatur (chronologisch): M. Haine, Les Facteurs d'Instruments de Musique à Paris au XIXe Siècle. Des Artisans face à l'Industrialisation, Brüssel 1985 • R. A. Lott, The American Concert Tours of Leopold de Meyer, Henri Herz, and Sigismond Thalberg (Diss. City-Univ. NY 1986) • J. Draheim, Robert Schumann und Henri Herz, in: U. Bär (Hrsg.). Robert Schumann und die französische Romantik, Mainz 1997, S. 153–168 • Chr. Kammertöns, Chronique scandaleuse. Henri Herz – ein Enfant terrible in der französischen Musikkritik des 19. Jhds., Essen 2000 (mit ausf. Literaturliste, darin auch: Grande Sonate op. 200, Ausg. Mainz 1861 u. Méthode op. 100, Textteil) • R. A. Lott, From Paris to Peoria. How European Piano Virtuosos brought classical Music to the American Heartland, Oxford 2002
Chr. Kammertöns, Art. Herz, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), hrsg. von L. Finscher, Personenteil in 17 Bdn., Bd. 8, Kassel etc. 2002, Sp. 1447–1449 • Ders., Art. Herz, in: Lexikon des Klaviers, hrsg. von Chr. Kammertöns und S. Mauser, Laaber 2005 • L. Schnapper, Entre théâtre et salon: Les premières salles de concert parisiennes aus XIXe siècle, in: L Gauthier/M. Traversier (Hrsg.), Mélodies urbaines. La musique dans les villes d'Europe (XVIe–XIXe siècles), Paris 2008, S.201–219 • Dies., Henri Herz, magnat du piano  (La vie musicale en France au XIXe siècle, 1815–1870, Collection En temps & lieux 23), Paris 2011 • Chr. Kammertöns, Die Grande étude artistique op. 222 von Henri Herz: Widerspiegelung bürgerlicher Kompensation im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Musik – Theater – Frankreich | Musique – Théâtre – France. Festschrift für Matthias Brzoska zum 65. Geburtstag, hrsg. von Fabien Guilloux und Nicole K. Strohmann, Würzburg: Königshausen & Neumann (Dr. in Vorb., erscheint 2022)



Quelle: Der Text
ist eine zusammengefasste und erweiterte Version von: Christoph Kammertöns, Art. Herz, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil in 17 Bdn., Bd. 8, Kassel etc.: Bärenreiter 2002, Sp. 1447–1449, und: Ders., Art. Herz, in: Lexikon des Klaviers, hrsg. von Chr. Kammertöns und S. Mauser, Laaber: Laaber 2005, S. 334–336.



*  Dank an Laure Schnapper für den Hinweis auf einen Lesefehler in meiner Zitation der handschriftlichen Heiratsurkunde in: Kammertöns, Chronique …  sowie in: Ders., Art. Herz
(vgl. Schnapper
, Henri Herz …, S. 25).  [zurück]

** Für nähere Erwägungen vgl. Kammertöns, Chronique …, S. 41–43, und Schnapper, Henri Herz …, S. 24f.  [zurück]

*** Dieses Lob verbindet sich bei dem Korrespondenten der AmZ, Georg Sievers, zugleich mit spekulativen, auf Herz’ jüdische Abstammung bezogenen Einlassungen. Für Zitate und zur Rolle der jüdischen Abstammung Herz in der öffentlichen Wahrnehmung seiner Zeit vgl. Kammertöns,  Chronique …, S. 41–43.  [zurück]




Stand:  August  2022,  © CK  bzw. Verlage (s. Quellenangabe oben)    /   > Seitenanfang